Osterspaziergang


Meine Lieben!

Hänschen hat sich von seinem Inselchen runter aufs große Festland getraut, hat sich in den Schnellbus, der über der Stadt auf einer eigenen Himmelsbrücke verkehrt, gezwängt, sich an den Rand der Stadt zum großen nördlichen Bahnhof begeben, wo der schnellste Serienzug der Welt, der „Harmonie-Wagon“ abfährt, eine Fahrkarte ergattert und sich genau zur Zeit der großen Frühlingswanderung, der Rückreise aller Chinesen in ihre Heimatorte, in die Menge geworfen und sich auch auf den Weg gemacht in eine Stadt, die mit der Herstellung von Feuerzeugen zu Wohlstand gekommen ist, um dort, auf Einladung einer guten Freundin, chinesisches Weihnachten traditionell zu feiern: nach Wönndschoh, auch die Stadt der weißen Hirsche genannt.

Eine anfangs vollkommen gesichtslos wirkende Stadt, die sich dann letztlich als eine ganz charmante Mischung aus Westberlin, Magdeburg und Rom entpuppte. Dam‘ nehme „das Beste“ langweiliger Architektur der 70er und 80er Jahre der ehemaligen alliierten Besatzungszone, ziehe einen sehr breiten Fluss hindurch, füge in seiner Mitte eine dem „Werder“ ähnelnde Insel ein, gruppiere ein Ensemble scharfkonturierter Berge um die Stadt herum und bevölkere ihre Straßen mit lustigen, netten aber scheuen Menschen, fertig! Dieser mein Wahrnehmungswandel lag wohl auch daran, dass die Stadt (ich nehme an wohl das ganze Land) in der Woche vor dem 31ten Januar wie versunken schien. Die nach sechs Monaten Aufenthalt allmählich ins Unterbewusste abdriftende Klangkulisse aus zahnsteinentfernerartigen Geräuschen ungeschmierter Bremsen jeglicher Art, quatrophonischem Hupen, kanonischen E-krad-alarmanlagen (Hörbeispiel folgt), Recyling-Mann-Rezitativen und ostinaten Megaphonverkäufern schien schon in Amoy gut hörbar im Decrescendo begriffen. In Wönndschoh war am 30ten dann definitiv nur noch ein Morendo zu vernehmen. Denn alles saß nun traut daheim beisammen. Alles still. Heilig-Abend-Stimmung.

Wie mir vorab bereits angekündigt wurde, bestand das Fest selbst aus 3 Punkten: Abspannen, Essen, Flimmerkiste. Über den zweiten Punkt pflegte ich bisher, meist zur Erklärung und Erhellung chinesischen Seelenlebens für Außenstehende, zu scherzen, dass Fressen der Chinesen Lieblingsbeschäftigung sei. Nach 5 Tagen unablässigen Essens feinster und abstrusester Speisen, muss ich dieses leichtfertige Bonmot doch zurücknehmen und sagen: es ist ernster. Es ist sehr ernst. Nicht, dass es unter den Deutschen keine Feinschmecker gäbe und Connaisseure besonderer Speisen, Gott bewahre, aber eine wie die hier allgemein verbreitete Passion für das Schmecken an sich, in seiner ganzen, allumfassenden Breite und dem damit verbundenen Ernst, habe ich bei uns so noch nicht erfahren. Jajajajaja, ich höre Euch schon: der Scheunendrescher möge bitte nicht von sich auf andere schließen!!! Darum sage ich bewusst „schmecken“ und nicht „essen“, denn diese Lust am Schnuppern, Schlabbern, Knabbern, Nagen, Schlürfen, Zutschen, Kauen, Knaubeln, Beißen, Schmatzen ist vielleicht am ehesten mit dem zu vergleichen, was das deutsche Gemüht an Feuer für Genauigkeit, Präzision, Akkuratesse, Perfektion und konzeptionelle Reinheit übrig hat. Danach SATT zu sein, ist zwar ein insbesondere bei Gästen anzustrebender Zustand, aber spürbar mit dem Bedauern verbunden, dass die „Sensation“ des Schmeckens ein Ende hat. Nirgendwo sonst habe ich erlebt, wie sich durch Weiteressen so gegen das „essgestopft“ (wie hier „satt sein“ heißt) gestemmt wird, wie hier. Just an meinem ersten Tag in China zum Beispiel, gab es gleich ein Willkommensbankett, auf dem mir mein Chef, an der Grenze des Fassungsvermögens meines Magens angekommen, den Rat gab: „Wenn Sie aufhören zu essen, kommt das Sättigungsgefühl, also: essen sie weiter, damit Sie weiteressen können.“  Oder wie eine sinisierte Deutsche mal sagte: „Du weißt du bist zu lange in China, wenn du dich beim Zoobesuch ständig fragst, wie dieses oder jene Tier wohl schmecken würde und am besten zubereitet gehört…“ 

So saß ich denn nun im kleinen Kreise, speisend und dem nicht enden wollenden Frühlingsfestfernsehprogramm folgend, in einem chinesischen Zuhause. Wenn ich nicht aß, sah ich fern, wenn ich nicht glotzte, aß ich, tat ich beides nicht, schlief ich oder befand mich auf dem Weg zum Essen. Nur hie und da wurde dieser Zyklus - meistens im Schlaf - von folgendem Geräusch unterbrochen:

Der Einschwingvorgang, der Anlaut quasi, ist wie wenn ein monströser, schwerer und gut geölter Rollladen ohne Halt heruntergelassen wird. Daran schließt direkt der Hauptkorpus des Klanges einer völlig überladenen Standardladepalette, die von Schwachköpfen ohne Hilfsmittel über schottrigen Boden gezerrt wird, an, um im Abgang, im Ausschwingen sozusagen zu klingen wie eine riesige LKW-Ladung Bollersteine, die in einem Rutsch in ein Swimmingpool gekippt wird. Dauer: ca. 16“. Schallpegel: ohrenbetäubend. Besondere Effekte: Häuserschluchtenhall.

Wovon spricht der Autor, würde ich jetzt meine Studentinnen fragen.

Was fühlt der Autor? Silvester.

Im Teil des Abspannens, den Spaziergängen auf der Insel, den Tempelbesuchen in der Stadt oder dem Flanieren entlang des Flusses, wo sich das ganze Volk, das zuvor noch wie vom Erdboden verschluckt schien, tummelte, herumquillte, picknickte oder sich in Fähren presste und übersetzte, gepaart mit lieblichstem deutschen Frühlingswetter, fühlte ich mich als sei Ostern. Bei solchem Wetter, knopsensprießig, sonnig und klar wähne ich dann immer meinen Geburtstag in unmittelbarer Nähe. Ist ja von Ostern meist nicht mehr weit und so pendelten diese 5 Tage zwischen Weihnachten, Silvester, Ostern und Geburtstag. 

Zurück in Amoy dann der harte Bruch. Mit meiner Rückkehr ist auch alles andere wieder da. Die Geräuschkulisse, die Menschenmassen und offensichtlich auch schon die Hitze. Meine frisch erstandene Daunenjacke chinesischen Stils kann ich jedenfalls wieder einmotten, es ist Sommer.

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