Zwölfeinhalb chinesische Verkehrsregeln
Wie meine
gebildeten, weltbewanderten und überaus intelligenten Leser sicher aus eigener
Anschauung wissen, ist der deutsche Straßenverkehr in seiner strengen
Ausprägung eher ein Exotikum, als das, was ich nun berichten möchte. Zunächst
ein zahmer Einstieg:
Anfangs sagte ich ja, dass ich noch Zeit bräuchte das alles zu verstehen und in der Tat
es hat fast zwei Jahre gedauert bis ich mir durch die Unwägbarkeiten des
chinesischen Verkehrs meinen Weg gebahnt hatte. Es hat ein bisschen was von „man
hat schon Pferde kotzen sehen; auf der Straße; und der Pfarrer war auch dabei!“
die Erlebnisse sind mitunter surreal, aberwitzig bis hin zu dem Überlebenswillen
vollkommen widersprechenden Absurditäten. Als mir dann aber zum ersten Mal –
und das als hartgesottenes Trabantfahrerkind! – in einem Taxi am 28ten März
2015 gegen 20:00 schwindlig und übel wurde, einfach durch das schiere Heizen
und Gurken des Henkers, dachte ich: Vielleicht sollte ich doch noch mein gesammeltes Wissen baldigst weitergeben...
Wenn ich
also hier versuche Erkenntnisse und
Regeln zu formulieren, sollte sich die geneigte Leserschaft im Klaren sein, dass
einige sich selbst widersprechen. Selbstverständlich
widersprechen sollte ich vielleicht schon sagen, China halt: die Verbindung krassester
Gegensätze zu einem - mehr oder weniger harmonisch - funktionablen Ganzen.
Nr.1: Sei
gefasst, ALLES ist möglich. A L L E S ! Ergo:
Nr.2: Praktiziere
statt vorausschauenden Fahrens, umschauendes Fahren, 360°- Blick (inklusive
z-Achse und ohne den Kopf zu bewegen; siehe Nr.7) und immer und nur bis zur
Nasenspitze denken. Was zehn Meter weiter passiert ist nicht relevant, denn da
müssen wir erst mal unversehrt hin und bis es soweit ist, kann aus jeder Ecke,
von oben, von unten, von HINTEN, jederzeit alles, A L L E S passieren. Links
blinken rechts abbiegen, rechts blinken geradeaus fahren, Fußgänger springen
blindlinks hinterm Bus hervor, rückwärts geschobene Fahrräder kommen auf der
Gegenspur den Berg hinunter, Menschen fallen aus dem Fenster auf die Straße
vor’s Gefährt, Gefahren/Naturalientransporte aller Art nehmen dem
Verkehrsteilnehmer fast das Augenlicht, Autos heizen auf dem Fußgängerweg, metertiefe Straßenlöcher, die Liste ist
unendlich…
Nr.3: In praxi heißt das A U S W E I C H E N, die zweitwichtigste Überlebenstechnik hier.
Nr.3: In praxi heißt das A U S W E I C H E N, die zweitwichtigste Überlebenstechnik hier.
Nr.4: Hup
oder stirb! Das Hupen bedeutet hier eher: „Mach‘ mal Platz.“ „Hi, ich bin’s.“ „Achtung,
ich komme.“ „Ich fahr auch hier.“ „Ich würde gern hier rein.“ „Bitte
weiterfahren“ (nett). Lustigerweise ist das Hupen ja auf meiner Insel ja verboten:
Anfangs
dachte ich, dass das das standardmäßige Übersehen aller Schilder ist, bis ich
dann mal mein schönes Amoy verlassen hab und andere Städte besuchte: ein
kontinuierlicher Strom des Hupens, ein Klangrausch wie im Vuvuzela-Stadion.
Hier sind ja sämtliche Bushupen runtergedrosselt, aber auswärts, allein schon
die Busse die vom Land auf die Insel kommen, ein Diesel-Elektro-Motoren-Lok-Signalhorn
ist ein Knallfrosch dagegen…
Nr.5:
Schneiden, schneiden, schneiden, fahre immer den mathematisch kürzesten Weg!
Daraus ergibt sich: alle Linksabbieger versuchen – standardmäßig! – noch VOR dem Gegenverkehr abzubiegen.
Nr.6:
Vorfahrt hin oder her, wer zuerst kommt mahlt zuerst, ob 1 cm oder 3 Millisekunden,
Erster ist Erster!
Nr.7:
Tendenz zum Recht des Stärkeren, habe aber auch schon Fußgänger SUVs, Dreiräder
ganze Lastwägen und Omis Busse stoppen sehen…
Nr.8: NIE
nach hinten bzw. sich umschauen bzw. den Anschein machen, frei nach U. Wickert:
Nr.9: Man
kann nach vorne gehen und braucht dabei nicht nach vorne schauen!
Nr.10: Beim
Parken oder Warten sucht man die Position, die der Gesamtanordnung den höchsten
Grad der Zufällig- und Unvorhersagbarkeit verleiht.
Nr.11: Nicht
rum/rein/vor/abdrängeln heißt de facto
stehenbleiben.
Nr.12: Apropos,
do it like the locals do: bleib hie und da, einfach mal stehen, egal ob
Autobahn, einspurige Einbahnstraße, beim gleichzeitigen
Ein- und Aussteigen, am schmalen Eingang, beim Boarding, ja genau, immer mal
von Zeit zu Zeit einfach stehenbleiben, zu Deutsch: B L O C K E N. Das kann dann zu Zusammenstößen wie im WM Halbfinale
2014 führen:
Paradebeispiel bitte ansehen: Neuer vs Bernard |
Meistens
bleibt es aber bei einer kurzen, eher seichten
Berührung, einem so häufigen Phänomen, dass die Chinesen es zu einer Redewendung
verdichtet haben: „tsah-dschiänn-ahr-guo“, wörtlich „mit den Schultern
aneinander vorbeischrammen“, was so viel wie „knapp verpassen“ oder „kurze Begegnung“
bedeutet.
Nr. 0.2:
Darum - seien wir fair und dankbar - es ist erstaunlich wie bei aller
Crazyness doch alles glimpflich durchgeht und funktioniert, schon fast ein
Wunder, jeden Tag.
Na dann,
Fahrprüfung ich komme!
Zum Schluss
sehen wir diese Regeln mal als Gleichnis auf die Gesellschaft…
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